Siegeszug Social Media: Laut Statista nutzen weltweit rund 4,9 Milliarden Menschen das Internet – und ganze 4,6 Milliarden davon sind regelmäßig in sozialen Netzwerken unterwegs. Bei Facebook, Twitter oder TikTok geht damit also fast jeder ein und aus, der die Möglichkeit dazu hat. Vielleicht liegt es auch an dieser Nutzer-Schwemme, dass die Plattformen immer aufdringlicher und nerviger werden.
Die Romantik des Neuen ist ja längst verflogen, Social Media hat sich irgendwie eingependelt. Instagram, Reddit und Co. versprechen zwar nach wie vor spannende Inhalte und erleichtern den Austausch mit Freunden und Gleichgesinnten. Gleichzeitig gehen uns die Dienste mit einer langen Liste von Problemen aber auch mächtig auf den Zeiger. Zeit für ein Pamphlet!
Schwurbler, vereinigt euch! (bitte nicht)
Die Corona-Krise hat es uns vor Augen geführt wie eine Ohrfeige beim Backpfeifen-Contest: Es gibt jede Menge Schwurbler im Land. Vor realitätsfremdem Geschwafel konnte man sich da selbst im Schutz eines kleinen Freundeskreises kaum retten. Das muss man sich mal bewusst machen: Die Weltgemeinschaft stellt sich einer der größten humanitären Krisen der Neuzeit und Onkel Herbert macht dafür 5G verantwortlich – wofür er auch noch regen Zuspruch erntet.
Bis ihm dann einfällt, dass das Virus eigentlich harmlos ist und die echte Gefahr von der Impfung ausgeht, damit verspritzen Mediziner weltweit nämlich bedrohliche Mikrochips. Made by Bill Gates. Alles klar, Herbert. Der Comedy-Charakter solcher Äußerungen verfliegt spätestens dann, wenn durch das Wunder von Algorithmen und Nutzerprofilierung alle Onkel Herberts der Republik zueinander finden und Covid per se zum Hoax, den Infektionsschutz zum Humbug und die Demokratie als gescheitert erklären.
Man fragt sich: Wo kommen die ganzen Schwurbler eigentlich her, gab es die früher schon? Die Antwort lautet wahrscheinlich: Ja, sie konnten sich nur nicht so gut bemerkbar machen. Soziale Medien sind das perfekte Medium, um Quer- und Schiefdenker zusammenzubringen.
Extreme Äußerungen und Likes an der richtigen Stelle sind wie ein Label, dass solche Fantasten ortsunabhängig zueinander führt. In der gemeinsamen Echokammer kommt dann keine zweite Meinung mehr zur Geltung und abstruse Theorien werden zum Fakt.
Die unendlichen Weiten des Live Feeds
Warp-Antrieb hin oder her, selbst Captain Kirk in seiner Enterprise hätte das Ende des Live Feeds bei Facebook, LinkedIn und Co. niemals zu Gesicht bekommen. Egal, wie lange man scrollt, die Posts ziehen sich wie geschmolzener Käse. Von Übersicht, Sortierung oder zumindest von einem wiedererkennbaren System kann man nur träumen.
Das endlose Chaos liegt ja nicht nur darin begründet, dass es einen heimlichen Wettbewerb auf den Plattformen zu geben scheint, wer den belanglosesten Content produziert. Ständige Algorithmus-Änderungen nerven genauso – zumal uns die Betreiber solche Anpassungen gerne heimlich im Hintergrund aufdrücken.
Alle sehen perfekt aus
Mal ehrlich: Wenn Sie ein spontanes Selfie machen, laufen Sie dann Gefahr, das Ergebnis mit dem Cover von Men’s Health oder der Vogue zu verwechseln? Wir sicher nicht. Zwischen Gesichtsfalten und dem mimischen Ebenbild von Kaffeemangel sieht das doch eigentlich… normal aus.
Vergleicht man sich aber mit den herausgeputzten, akribisch geschminkten und knackig austrainierten Profi-Selbstdarstellern im Social-Media-Feed, muss man ja schon fast Selbstwertprobleme bekommen.
Wer schlürft seinen Cappuccino bei Starbucks denn bitte derart aufgebrezelt, dass er anschließend gleich zum Fotoshooting weiter stolzieren kann? Fachleute rätseln nur noch, ob Social Media lediglich die perfekte Bühne für Narzissten ist, oder ob es die Entwicklung solcher Persönlichkeiten aktiv befördert.
An der Tatsache, dass sich dort die schöne Eitelkeit tummelt, gibt es ja keine Zweifel mehr. Bei solchen Standards traut man sich mit einem 08/15-Gesicht kaum noch in die virtuelle Öffentlichkeit. Kein Wunder also, dass einige Nutzer Instagram löschen müssen, um sich selbst vor psychichen Problemen zu schützen, die dadurch entstehen können.
FOMO und der schöne Schein
Im Englischen gibt es das prägnante Kürzel „FOMO“, manche kennen das vielleicht aus der Kryptowelt. Es steht für „Fear Of Missing Out“ und bezeichnet das sehr menschliche Phänomen, etwas Positives zu verpassen, in dessen Genuss andere durch rechtzeitiges Handeln aber noch kommen.
Wenn man also bei Instagram, Facebook oder Tiktok ständig dabei zusehen muss, wie andere die schönsten Ecken der Erde erkunden, sich ein luxuriöses Eigenheim bauen oder fette Partys feiern, löst das bei vielen Nutzern ganz automatisch das Gefühl aus, tolle und bedeutende Momente im Leben zu verpassen.
Dass sich die Reisenden im Urlaub nur gestritten haben, der Kredit fürs neue Haus den Rahmen sprengt oder wie heftig der Kater nach dem Feiern gewesen ist, steht natürlich nicht mehr in den Poser-Posts.
Fehlinformationen, Propaganda und Hassrede
Ein fragwürdiger Trend der letzten Jahre setzt sich fort: Immer mehr Menschen beziehen ihre Nachrichten von Social-Media-Plattformen, besonders Jugendliche sind betroffen. Klar: das ist kostenlos, schnell und ziemlich einfach. Blöd halt, dass da niemand wirklich darauf achtet, ob Berichtetes noch etwas mit der Realität zu tun hat.
Besonders Meta zeigte sich in den letzten Jahren äußert unwillig, dem Wahrheitsgehalt in seinen Milliarden Posts und Meldungen auf den Zahn zu fühlen.
Bei Elon Musks Übernahme von Twitter war die Entfesselung von Hirngespinsten quasi das zentrale Motiv. Jeder Gedanke, sei er noch so volksverhetzend oder hasserfüllt, sollte seinen Platz auf der Plattform finden. Redefreiheit auf amerikanische Art nennt sich das. Mission accomplished kann man da nur sagen, allein die Hassrede gegen Schwarze Amerikaner hat sich nach der Übernahme sofort verdreifacht.
Die Feinde von Onkel Herbert
Da sind wir auch schon wieder bei Onkel Herbert, dessen steinzeitliche Gedankenergüsse haben uns früher ja nur an Weihnachten geplagt, wenn mal wieder die ganze Familie zusammengekommen ist. Aus dem halbwegs erträglichen (weil jährlichen) Turnus wird dank Social Media aber schnell ein nervenaufreibendes Dauerfeuer.
Onkel Herbert hat nämlich Zeit. Und manchen Groll hat er auch, besonders gegenüber Personen, die eine andere Meinung haben. Das muss man sich zum Schutze des Familienfriedens dann nicht nur regelmäßig und in harschen Worten vortragen lassen.
Dank Vernetzung wird man vom Algorithmus auch gerne in den gleichen Topf geworfen oder kommt in den Genuss der Kommentare von Herberts Freunden. Die haben wirklich gute Beweise dafür, dass es die Mondlandung nie gab, während Hillary Clinton aber bewiesenermaßen von einem fernen Echsen-Planeten stammt.
Spionage, Big Data und: Werbung, Werbung, Werbung
Wir kennen ja die alte Weisheit: Nutzt man einen Dienst kostenlos, ist man höchstwahrscheinlich selbst das Produkt. Social-Media-Plattformen setzten da aber noch einen drauf, man will uns dort ja nicht nur mit Werbung zumüllen, bis wir irgendetwas kaufen, das wir gar nicht brauchen.
Jeder Kommentar, jeder Post und jeder Klick wird unerbittlich gespeichert, ausgewertet und zur Nutzerprofilierung eingesetzt. Wie transparent man im Schatten solcher Datensammelwut wird, will man vielleicht gar nicht wissen. Auch der Gedanke, mit welcher analytischen Genauigkeit zukünftige Algorithmen Profile von uns erstellen werden, die sich ja auf immer bessere Technologie und einen unaufhaltsam wachsenden Datenberg verlassen können, hilft nicht beim Einschlafen.
Dabei ist das aktuelle Resultat schon schlimm genug: Allgegenwärtige und aufdringliche Werbung wird uns ja auf allen Plattformen aufgezwungen. Dabei hat man die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder, man muss sich Ads für Produkte ansehen, mit denen man so viel zu tun hat, wie ein Fisch mit einem Fahrrad. Oder die angepriesenen Waren passen so gut zum persönlichen Konsumverhalten, dass man im Wohnzimmer am liebsten nach Wanzen suchen möchte.
Social Media oder Social Mania?
Erholung, Humor oder mit Freunden auf Tuchfühlung gehen – irgendwie schafft man es immer wieder, sich vom nächsten Besuch auf Facebook und Co. eine gute Zeit zu erwarten. Am Ende kommt’s dann aber doch oft anders, das schillernd inszenierte Leben der Selbstdarstellungs-Profis kann Gefühle von Einsamkeit, Depression oder sozialer Ablehnung auslösen. Laut einer Studie führt ausgerechnet Social Media besonders bei jungen Menschen immer öfter zu Sozialphobie.
TikTok
Das war’s schon. TikTok nervt als Ganzes. Eigentlich ginge es schneller, aufzuzählen, was uns an der schrillen Dauerfeuer-Plattform nicht auf den Senkel geht. Die schiere Masse mundaner und bedeutungsloser Videos im Feed, penetrantes Autoplay an jeder denkbaren Stelle, unangemessene Inhalte und endlose Benachrichtigungen – the list goes on.
Wenn man sich als hirnloses Zahnrad in der Geldmaschine von Großkonzernen fühlen möchte, dann ist ein TikTok-Account wahrscheinlich der schnellste Weg dorthin. Dabei haben wir mit dem miserablen Content-Filter, dem lachhaften Datenschutz und der Suchtgefahr für Kinder und Jugendliche noch gar nicht angefangen.
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