Ein wildgewordener Zahnarzt-iRobot stürzt auf uns zu, will uns an die Beißerchen in der Weltpremiere von Judas und ruft vergnügt “Zeit für eine neue Füllung”, während er uns mit seinem Bohrer zerstückeln will.
Wir hacken ihn, lassen Öl auslaufen. Er steht in seiner eigenen Öl-Lache, wir ballern mit dem Revolver aus der rechten Hand. Und verschießen Flammen aus der linken – der Apple weiße Robo mit den orange glühenden Digital-Augen brennt lichterloh.
Ja, Judas fühlt sich an wie das neue BioShock 4, das nicht BioShock heißt. Aber genauso episch ist: die Musik, das Universum, dieses verspielte Level-Kunstwerk, was ein Raumschiff ist.
Judas ist zwar kein BioShock, aber in seinem Art-Style, seinen Figuren und seinen Ideen ist es sehr BioShock-esque. Milliardär versucht, eine Utopia zu erschaffen und kreiert eine KI-Horror-Welt in wunderschönem Art Déco.
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Der Feinschliff im Design, diese feinen Art-Déco-Elemente, die sich anfühlen, als hätte man den Chrysler Tower aus New York in den Weltraum transformiert. Diese Mischung zwischen Steampunk, Western und dem Gigantismus von New York City, den wir in Rapture schon so gefeiert haben, erweitert um eine faszinierende Melange aus Dishonored und HBOs Westworld.
Menschen, die halb Maschine, halb Fleisch und Blut sind. Little Sister, die anders aussehen, aber sich auch in Pfützen elektroschocken lassen. Big Daddies mit Kettensägen-Armen, die sich vereisen lassen. Die Story, die Dialoge, der Stil.
Das ist wirklich wie BioShock 4, auf das wir schon so lange warten und es wird richtig gut. Ken Levine und sein Team schaffen es Welten zu bauen, die vollkommen irre sind, sich aber echt anfühlen.
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Rapture fühlte sich authentisch an, weil die Designer auf jedes noch so kleine Detail achten – weil z. B. überall Audio-Logs herumliegen. Weil in dieser Unterwasser-Stadt ganze Mechaniken in Architektur umgemünzt wurden, damit die Metropole dem Druck des Ozeans standhält.
Und auch hier fühlt sich jedes Bettchen, jedes luxuriöse Sofa, jedes Wohnzimmer so an, als würden hier Menschen wohnen. Oh, und diese Menschen sind eigentlich Roboter, was wir Ihnen dummerweise verraten haben. Weshalb alle auf uns wütend sind und uns ein J aufs Shirt sprühen wollen – J für Judas, die Verräterin.
Steampunk-Revolver, Saloon-Türen, eine Western-Welt, geschaffen von KI. Wer HBOs Westworld mochte, der wird das neue Baby von BioShock-Papa Ken Levine lieben.
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Auch wir sind tot und nur eine Kopie unseres eigenen Ichs, die allerdings Schmerz und Emotionen empfindet, sich an Dinge des Lebens erinnert. Ein Milliardär hat dieses Raumschiff als Wellness-Utopia designt: Es wurde Party gemacht, Selfies beim Konzert, endlich der Partner fürs Leben gefunden und für Western-Fans quasi HBOs Westworld in Videospielform an Bord eines gigantischen Kolonieschiffes geschaffen.
Nur dummerweise sind hier alle Cyborgs, keine Menschen mehr – sie sind längst tot, was keiner wusste, bis wir es wohl verraten haben, was knubblige Roboter und Menschen-ähnliche Figuren in eine Identitätskrise getrieben hat, gegen die “The Kardashians” nur Kindergeburtstag sind.
Ken Levine will eine neue Art erfinden, non-lineare Geschichten zu erzählen
Ken Levine gefiel nicht, dass Elizabeth in BioShock Infinite keine Entscheidungen treffen kann. Sie kann nicht individuell auf unsere Aktionen reagieren. Die drei Hologramme der Story von Judas, sind genau dafür designt.
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“Elizabeth war zwar angeekelt von unserer Brutalität in Infinite, aber sie konnte nicht einfach sagen ‘F. You, ich hau jetzt ab’“, erzählt Ken Levine in einem fantastischen Podcast, den wir hier verlinken.
“Das störte mich hinterher, die wichtigste Figur des Spiels konnte nicht darauf reagieren, wie wir uns verhalten.” Und das hat ihn dazu bewogen, etwas zu entwickeln, was er “Narrative LEGO” nennt. Wir alle lieben LEGO, diese bunten Steine, die ein Gebäude ergeben nach Anleitung. Aber auch ein fliegendes Luftschiff, wenn wir sie anders zusammensetzen.
Das ist die Kernidee von Judas: Es gibt diese drei Hologramme, die die Geschicke des Schiffs lenken wollen und die stets darauf reagieren, was wir tun.
Ken Levine nennt Hades, The Last of Us, Dead Cells und Mittelerde: Schatten des Krieges als große Inspirationen in diesem fantastischen Podcast:
Da gibt es Tom, den Sicherheitschef der Mayflower. Nach der Philosophie “Ein Schiff braucht seinen Captain” will er unbedingt seine Mission vollendenden, alle sicher auf den neuen Heimatplaneten Proxima Centauri zu bringen.
Dann ist da Nofretete, seine Ehefrau. Eine Technokratin, die Menschen in makellose Maschinen verwandeln möchte. Maschinen handeln rational, nicht emotional, was der Grund allen Übels sei. Sie will eine Gesellschaft der Roboter erschaffen, ein wenig wie in Gareth Edwards brillantem Sci-Fi-Blockbuster The Creator.
Und dann gibt es da noch ihre verstörte Adoptivtochter Hope – ein Hologramm, welches sich wünscht, gelöscht zu werden.
Die Mayflower als KI-Raumschiff erfüllt alle Wünsche: Tom wollte immer ein Sheriff sein, entsprechend sind seine Security-Roboter Deputies – Roboter-Pferde mit Winchester.
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Und hier wird es jetzt richtig spannend und ganz anders als in BioShock: All diese drei möchten uns für ihre Mission auf ihre Seite ziehen und fahren dafür etliche Tricks und Intrigen auf. Je nachdem wie wir reagieren, setzen wir den Story-LEGO-Stein.
Natürlich gibt es auch viele WTF-Momente: Etwa einen riesigen Roboter-Hund, um von Distrikt zu Distrikt zu reisen, weil die Mayflower riesig ist wie Columbia aus BioShock Infinite. Und dann ist Judas auch noch ein Rogue-Like. Sterben wir, verlieren wir unser Equipment.
Die Idee dahinter: Der Tod soll die Chance eröffnen sich anders zu skillen, andere Waffen auszuprobieren, andere Kräfte. Andere Nuancen des Spiels zu erfahren.
“Zeit für die nächste Füllung”, freut sich der Zahnarzt-Roboter mit den orange glühenden LED-Augen. Ihm sind die Schaltkreise durchgebrannt, entsprechend jagt er uns.
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Zudem gibt es eine Art Zwischenwelt, in der wir mehr erfahren über gewisse Figuren, die Geschichte der Mayflower, sie sind quasi die Audio-Logs von BioShock in Level-Form. Bei jedem Tod zeigt sich dieses Universum ein wenig mehr, was ein interessantes Stilmittel ist.
Die Welt an sich ist zudem persistent – wir sterben, werden neu “gedruckt” als Roboter im 3D-Printer. Aber die anderen Schiffsreisenden, die machen einfach weiter. Und die Hologramme “ärgern” uns damit, dass wir mal wieder gekillt wurden. Das ist noch einmal eine neue, skurrile Humor-Komponente, die ebenfalls das Storytelling auf eine neue Ebene bringen soll.
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Drei Protagonisten, die uns das Leben vereinfachen oder zur Hölle machen
Ken Levine liebt seinen Hund und hat ihn quasi als riesige Robo-Version in Judas eingebaut. Der wackelt auch mit dem Cyborg-Schwanz, transportiert uns aber vor allem zwischen den Distrikten der drei Protagonisten.
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Judas macht nicht den Fehler, den wir schon viel zu oft gesehen haben: Die Profis schreiben die Geschichte – Spiele sind immer dann zu 08/15-Storylines verdammt, wenn man uns als Spieler zu viel Einfluss gibt. Vielmehr funktionieren diese Holo-Protagonisten wie der Joker – sie moderieren, analysieren und kritisieren, was wir tun. Wie ein Erzähler aus dem Off.
Aber sie nehmen auch Einfluss, wenn wir uns gegen ihre Werte stellen. Der Sheriff und Sicherheitschef etwa macht ein Schloss an eine Tür und grinst uns entgegen, als wir vor einem verdammt harten Boss fliehen wollen. Es ist eine smarte Idee, Hologramme zu benutzen, denn diese sind allgegenwärtig – sie sitzen plötzlich vor uns, auf einem Schrank und motzen uns an.
Oder bezirzen uns. Oder versuchen uns sonst in ihren Bann zu ziehen. Es bringt das Storytelling auf eine neue Ebene, weil es unser Spieler-Gehirn neu justiert: Wir sind es gewohnt, stillzustehen und zuzuhören, in non-interaktiven Cutscenes.
Hier hingegen wird uns die ganze faszinierende und sehr verstörende Geschichte der Mayflower erzählt, während wir diese Steampunk-Welt mit ihren Western-Saloons erkunden. Entscheidend wird sein, dass Ken Levine und sein Team die goldene Mitte finden, weil BioShock immer von seinem Mysterium lebte: Wir wussten wenig und mussten uns diese Welt über kleine, versteckte Details und Audio-Logs erarbeiten.
Hope kommt nicht damit klar, ein Roboter zu sein und reißt sich stückweise die künstliche 3D-Druck-Haut ab, weshalb sie wie der T1000 aus Terminator aussieht.
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Es wäre schade, wenn sie uns diese einfach vor die Füße kippen, aber bisher ist das einfach faszinierend: Weil die Hologramme einmal eine Familie waren, wir sehen, wie sie als Menschen waren und zu Robos wurden. Wie sich ihre Tochter selbst verstümmelt, weshalb hinter ihrer menschlichen Fassade immer wieder LED-Augen und CPU-Chips herauslinsen.
Die Kernidee könnte nicht besser ins Jahr 2024 passen: Ein Milliardär und Elon-Musk-Typ findet heraus, dass die Menschheit auf der Erde nicht überleben wird und lässt sich von einer KI errechnen, wie das perfekte Raumschiff für eine sehr lange Reise zu einem entfernten Planeten aussehen könnte.
Eine Utopie, die zur KI-Dystopie wird
Aktuelle Gesellschaftsprobleme, wie die Cancel-Culture, die uns gerade um die Ohren gehauen wird, spielen auch in Judas eine große Rolle. Alle sind , weil wir ihnen verraten haben, dass sie Robos sind.
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Es gibt abstruse Robo-Pferde, die wohl den Robo-Cowboys hier gehören, die durch einen Systemfehler ständig mit ihrer Winchester in die Luft schießen und auf uns Jagd machen. Weil Judas aber Ingenieurin und Hackerin ist, können wir die Cyborgs wie in Cyberpunk 2077 in Selbstmordbomben umprogrammieren, die zu ihren Kumpels rennen und ihre Chips überhitzen.
Aber es ist auch so eine faszinierende, BioShock-esque Welt – mit all diesen Propaganda-Postern, die die perfekte Ehe versprechen: One Family, One Mission! Andere sollen diesen Rosa-Rote-Brille-Valentinstags-Vibe für Singles auslösen, dienen aber auch der Unterwerfung ins System.
Judas hat gewisse Rogue-Like-Elemente, die sich aber laut Ken Levine nicht bestrafend anfühlen sollen, sondern belohnend. Jeder Tod öffnet die Tür in eine Zwischen-Dimension, die viel mehr Tiefe in die Geschichte und Figuren bringt.
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Es gibt so eine Art Social Media, wo jene, die System-treu agieren, viele Likes bekommen, wie die Kollegen von Skill Up herausgefunden haben. Und die Kritischen mit Hass überzogen werden, wie in unserer Welt. Weshalb alle sauer auf uns sind, weil sie zuvor glücklich waren – sie lebten zwar eine Lüge, aber die fühlte sich gut an.
Wir haben als Protagonistin die Wahrheit herausposaunt, dass sie gar nicht mehr leben, sondern Chip-gesteuerte Cyborgs sind mit der Erinnerung echter Menschen. Und mehr oder weniger wirkt es auch so, als würde sich dieses Raumschiff langsam auflösen und ständig Teile verlieren. Hm, mysteriös, mysteriös. In welcher Unterwasser-Stadt war das gleich auch so …
Judas erscheint für PlayStation 5, Xbox Series X/S und den PC. Einen Release-Termin gibt es aber bislang nicht.
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